Feldstudie, ’mind the gap!’
2023
Gesprächswege, Stimmen
im Zwischenraum
Bettina Nagler, Mathis Burmeister
Grundriss, Bibliothek - Seminarraum
'Burg Halle'
Neuwerk 7, 06108 Halle an der Saale
Senatssitzung, 7. Dezember 22 - 16.17 Uhr
1
Die anwesenden Personen des Senats sind durch einen 'Punkt' verortet und zunächst neutral dargestellt.
2
Die Senatssitzung zeichnet einige Wortwechsel und Fortführungen des Gesprächs.
3
Als störenden Einfluss zeigen sich Zwischenrufe, laute Kommentare oder flüsternde Absprachen.
* Das hier prominente, sich unterscheidende Symbol des 'Rings' markiert nun die/den Wortführende*n.
* Demnach springt das Symbol 'Kreis' der Wortführenden zu dem sich anschließenden Redebeitrag. Dem 'Weg der Stimme' folgt die blau-gepunktete Linie.
* Dargestellt werden diese Nebengeräusche durch weitere Markierungen 'Ring' der Sprecher*innen.
Senatssitzung No. X
Seminarraum, Bibliothek
'Burg Halle'
7. Dezember 23
Tagesordnungspunkt X
Debatte, 16.17 - 16.29 Uhr
Abstimmung, 16.30 Uhr
16.30 Uhr
Fürstimmen
21 von 29
Teilnehmende
am Gespräch
3
16.32 Uhr
Gegenstimmen
1 von 29
Teilnehmende
am Gespräch
1
16.32 Uhr
Enthaltungen
7 von 29
Teilnehmende
am Gespräch
1
Abstraktion
Das in '2' beschriebene, verbindende Mittel als Wegmarken der Wortwechsel wird schichtweise hervorgehoben. Dazu wird zunächst der Grundriss, dann die Sitzgruppen ausgeblendet.
* Bei Nachvollziehung der Sprachanteile entsteht ein sich-selbstzeichnender 'Graph' der Diskussion.
Redeanteil 1
1 x innenliegender Kreis
1 x umliegender Ring
Redeanteil 3
1 x innenliegender Kreis
3 x umliegender Ring
Redeanteil 6
1 x innenliegender Kreis
6 x umliegender Ring
Der außen hinzugefügte 'Ring' um den innenliegenden 'Kreis' markiert jeweils einen Wortbeitrag der Diskussion, auch dann, wenn es sich in Zwischenrufe, Kommentare oder Parallelgespräche äußert.
Die variierende Größe übersetzt so die Gesprächsanteile, die addierenden, farblichen Deckkräfte des Symbols mindern eine klare Abgrenzung und weiten sich auslaufend in den Raum hinein - ähnlich und in Anspielung einer tatsächlichen Stimme.
Die Durchsetzung der Abstraktion und der Übertrag der jeweiligen Redeanteile aller Sprecher*innen erzeugt einen Graphen. Dieser veranschaulicht die individuell geführte Debatte des Hochschulsenats.
Die visuelle Übersetzung verrät die Zwischenräume und Wege des Gesprächs.
Der nun generierte Graph vermag es Anliegen abzubilden, die besonders im Interesse der Studierenden stehen.
Plakatserien erlauben es Themen, Abstimmungen und Entscheide darzustellen und gleichbedeutend Redeanteile, Zwischenräume, Gesprächswege und besonders -lücken zu verdeutlichen. Weiterhin fragen wir uns, welche Inhalte und Bedenken im Zwischenraum Gefahr laufen sich zu verlieren oder unberücksichtigt bleiben. Die Feldstudie 'mind the gap!' verweist auf diese Lücken.
Die Plakatserie unternimmt den Versuch diese Schwellen zu überwinden und an die Beachtung der Hochschulpolitik zu mahnen.
Reflexion, Feldforschung
'mind the gap!'
1 — Erkenntnisinteresse
„Warum wird das Design eigentlich nicht zur Rechenschaft gezogen?” Ausgehend von dieser kontroversen Frage einer Semianrteilnehmerin fanden wir uns in einer Diskussion wider, die sich grob um das Lernen, Studieren und Lehren an der Burg drehte.
Wir einigten uns in der Seminarrunde auf die Frage: „Wie wird X an der Burg gelehrt und gelernt?”Das X konnte für jede*n von uns anders sein, je nach dem an welchem Punkt im Studium wir uns befinden, was wir studieren oder in welcher Studienstruktur wir uns bewegen. Fest steht, dass diese Begriffe pro-emisch waren, also die wir selbst, in unserer Position als Studierenden nutzen. Wir pendelten in einer offenen Diskussion zwischen Haltung und Zukunft des Designs, Kapitalismuskritik, Fachgeschichte/Designgeschichte, Arbeitskultur und kritisches Design hin und her. Wichtig war dabei herauszufinden, welches spezielle Thema in den Fragestellungen steckt? Und vor allem: wie wird das ausgehandelt.
Für die anschließende Feldforschung konnten wir unser X nicht bestimmen. So schlenderten wir über den Campus, atmeten tief durch und folgten gedanklich dem Trubel des Innenhofs. Mit losen Strängen waren wir im Feld — aufmerksam für die Regeln des Spiels. Wie ein Spielball erreichte uns die Info darüber, dass heute eine Senatssitzung stattfinden wird. Der Rahmen eines Hochschulgremiums, einer Senatssitzung, führte zu der Fragestellung, wie Hierarchien in einem solchen Setting im Raum lesbar, hörbar oder spürbar werden.
2 — Methodischer Ansatz
Zusammen haben wir uns in den öffentlichen Teil der Senatssitzung gesetzt und die Situation beobachtet (teilnehmende Beobachtung). Die Senatssitzung fand im Seminarraum der Bibliothek am 7. Dezember 22 um 16 Uhr statt.
Kurzfristig entschieden, die kleine Feldstudie innerhalb der Senatssitzung durchzuführen, ging alles plötzlich sehr schnell. Leider waren wir so zu Beginn nicht besonders gut vorbereitet, hatten keine Informationen über die Tagesordnungspunkte, und kannte nur den Großteil der anwesenden Personen. Zugegeben waren wir zehn Minuten zu spät und bereiteten dann die teilnehmende Beobachtung in den ersten Minuten vor. Rasch haben wir versucht Charaktere zu konstruieren, je nachdem was sie sagen und wie sich äußern und welche Kommunikationskultur sie pflegen. Dies haben wir versucht ganzheitlich, ohne auf einzelne Personen zu fokussiert zu sein, zu notieren, zu dokumentieren und zu skizzieren. Zudem verfolgten wir die Positionen der Sprecher*innen im Raum und zeichneten auf einer Skizze eine Art „Gesprächsweg“. Insgesamt versuchten wir möglichst viele Eindrücke und Geschehnisse zu dokumentieren und zunächst eine große Materialsammlung zu bilden.
In Stichpunkte notierten und skizzierten wir folgende Punkte:
- Haltung: Sitzhaltung, Beinstellung, Armstellung, Interaktion mit dem Tisch/Stuhl, Positionswechsel
- Arbeitsmaterialien: Laptop, Papierausdrucke, handschriftliche Notizen, Smartphone
- Gestik und Mimik bei Passivität oder Aktivität
- Uhrzeit: Abwesenheit einzelner Personen, Zeitfenster und -rahmen der TOPs
- Positionswechsel
- Stimme: Aufgeregt, sicher, empört, schnell sprechend, ruhig
- Persönliche Ablehnung bzw. Zuspruch nach Äußerungen, was nehmen wir war und weshalb
- Gruppen: Formierung über räumliche Distanz/Nähe hinweg, tuscheln, Absprachen
- Moderation: Vergabe von Redeanteilen, Einschränkungen, Unterbrechungen, Wortmeldungen
- Gepäck: Kleidung, Koffer, Utensilien
- Besonderheiten: Bemerkenswerte O-Töne, Wortlaute, Argumente
- Das persönliche Empfinden: Wie fühlen wir uns?
3 — Vorgang
Gemeinsam haben wir aufmerksam zugehört, mitgedacht, beobachtet und vor allem mitgeschrieben und skizziert. Aber wie wir dabei feststellten, war es lediglich der Versuch einer ganzheitlichen Dokumentation, da insbesondere Ereignisse festgehalten wurden, die wir deuten wollten und weitreichend spannend erschienen. So interpretiert sich folgende Interaktion zwischen einer höher gestellten Verwaltungsmitarbeiterin und einem Studierenden.
Der Student formuliert eine lange Frage, indem er versucht zusätzlich den Kontext seines Anliegens für die anwesenden Personen offenzulegen. Er blickt viel in den Raum, sucht nach Blickkontakt und Gehör. Der Student spricht zu Beginn etwas aufgeregt, dann festigt sich seine Stimme, dennoch erröten seine Wangen. Währenddessen stützt die Verwaltungsmitarbeiterin ihren Kopf in die Hände und blickt kaum auf, scheinbar konzentriert sie sich auf den ihr vorliegenden Ausdruck. Ihr Körper fällt immer mehr zusammen und hängt träge über dem Tisch. Der Student beendet seine Frage und blickt erneut, nun etwas nervös, in den stummen Raum. Die Verwaltungsmitarbeiterin antwortet trocken: „Ja natürlich“ und beendet das Anliegen.
Hier waren wir besonders aufmerksam, merklich aufmerksamer als bei anderen Wortwechseln. Wir überlegen noch lange Zeit, warum wir die Situation als so unangemessen interpretieren. Liegt es wahrscheinlich einerseits an ihrer [der Mitarbeiterin] mangelnden Würdigung der Frage eines Studierenden, der in unseren Augen mutig hervortritt und eine Ausnahme inmitten der sprechenden Gruppe der Lehrenden bildet, durch ihre geschlossene, passive, ungerichtete Sitzhaltung? Oder andererseits daran, dass ihre Antwort kein Verb, also einen vollständigen Satz beinhaltete? Für uns äußert dieser Wechsel ein Missverhältnis: lange Frage, kurz angebundene Antwort.
Da hier Wissen bzw. Erkenntnis für eine Person [den Studierenden] ausgehandelt wurde, finden wir es jedoch doch sehr wichtig, diese Situation zu dokumentieren. Uns würde interessieren, wie andere diesen Wechsel und ob sie ihn überhaupt wahrgenommen haben.
Darüber hinaus notierten wir und dachte nach – simultan und anschließend:
- Wen empfinden wir als sympathisch, wen nicht – und wieso?
- Welches Vorwissen über Einzelpersonen beeinflusst uns?
- Anstrengung und Ermüdung, schlechte Luftverhältnissen zerren an unserer Konzentration.
- Welche Schwellen nehmen wir war - und warum?
3.1 — Vorgang, Selbstreflexion
Die Selbstreflexion ist noch nicht abgeschlossen und oft denken wir daran, warum sich Antipathien und Sympathien in uns aufbauten und ob sie bestehen. Nicht alles schrieben wir mit, einiges nahmen wir nicht wahr. Deutlich später verstanden wir, dass sehr vieles auch mit unserer Position im Raum zu tun hatte und wie wir uns den Zugang zu diesem Raum verschaffen konnten. Die Tür bedeutete für uns eine Schwelle und materialisierte einen Ausschlussmechanismus. Sie prägte irgendwie auch dieses „Vorzeichen“, unser Empfinden über den Raum. Im Gespräch stellten wir zusammen fest, dass der gleiche Raum, in dem wir tagsüber saßen und entspannt diskutieren konnten, ein ganz anderer Raum während der Senatssitzung war. Der Raum war geladen, Material wie die Stühle und Tische wurden auf einmal „institutionalisiert“ und kalt.
Das erinnerte auch an die Schulzeit, und an den Klassenraum, der sich je nach Lehrperson entweder angenehm oder absolut stressig anfühlte. Dem entsprach auch die kontroverse, damaligen Haltung zur Schule im Allgemeinen.
Was gut bei der Feldforschung funktionierte, war, „Ethnograph*in zu spielen“. Das bedeutete, im Raum zu sein, sitzen, körperlich dort sein und alles aufzusaugen, sich zurückzunehmen und sehr bewusst als Nicht-Akteur*in aufzutreten. Es fiel uns leicht, alles sehr spannend zu finden, was sicherlich als Akteur*in nicht so passiert wäre. Aber wir bemerkte auch, wie schwer es ist, eine Fremdkonstruktion aufrecht zu erhalten. Es gab zum Beispiel die Situation, in denen Entscheidungen über die Gruppe der Studierenden ohne Beteiligung von Studierenden getroffen wurden und wir dabei Ungerechtigkeit, ja sogar Empörung empfanden – sicherlich deswegen weil wir dabei unbewusst in die Rolle der Betroffenen rutschten, als vielmehr teilnehmende*r Beobachter*in zu bleiben.
4 — Umsetzung
Einen tatsächlichen Vergleich haben wir nicht, dennoch war aber diese teilnehmende Beobachtung ein Anhaltspunkt, was es praktisch bedeuten könnte, ethnographisch zu arbeiten. Was sich davor irgendwie einfach und spielerisch anhörte, erfordert eigentlich einen langen Reflexionsprozess und - für uns zumindest - auch den Dialog mit anderen darüber. Dass alles auf einmal eine Gewichtung bekommt, stellt eine Herausforderung dar: Für die Einzelperson, aber auch für die Datenverarbeitung. Die eigene Gefühle aufzuspüren, und wie Beziehungen sich in dem Regelwerk wiederfinden, ist ein schwieriger und besonders langer Prozess. Aus eineinhalb Stunden Senatssitzung resultieren einige Stunden des Nachdenkens und Sprechens.
5 — Feldmaterial
Die Sammlung unserer Notizen, Skizzen und Diagrammen sind analoges, handgeschriebenes, teilweise geschmierte Mitschriften im Notizheft und auf losen Blättern. O-Töne, kleine Skizzen, quantitatives Material wie Uhrzeit und Anzahl der sprechenden Personen, sowie subjektives Raumempfinden (eine Mentalmap vom Raum). Immateriell, die noch nicht zu Ende reflektierten Gefühle und Stimmungen.
6 — Ausblick
Wir haben das starke Gefühl, dass eine gewissenhafte Reflexion über die Feldforschung sehr viel Nachbearbeitung benötigt. Dies alles zu durchdenken, zu durchdringen und zu reflektieren, scheint uns wirklich sehr schwierig und intellektuell wahnsinnig anspruchsvoll zu sein. Dadurch, dass wir immer mit dem Körper und mit unseren kulturalisierten Sinnen unterwegs sind und teilnehmen, empfinden wir es herausfordernd, die Fremde im Inneren zu konstruieren.
Auch hier denke wir, dass sich diese Beobachtungen mit Theorien verbinden müssten, bevor wir noch einmal an einer ähnlichen Situation teilnehmen.
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Feldstudie, 'mind the gap'
2023
Gesprächswege, Stimmen
im Zwischenraum
Bettina Nagler, Mathis Burmeister
Grundriss, Bibliothek - Seminarraum
'Burg Halle'
Neuwerk 7, 06108 Halle an der Saale
Senatssitzung, 7. Dezember 22 - 16.17 Uhr
1
Die anwesenden Personen des Senats sind durch einen 'Punkt' verortet und zunächst neutral dargestellt.
* Das hier prominente, sich unterscheidende Symbol des 'Rings' markiert nun die/den Wortführende*n
2
Die Senatssitzung zeichnet einige Wortwechsel und Fortführungen des Gesprächs.
* Demnach springt das Symbol 'Kreis' der Wortführenden zu dem sich anschließenden Redebeitrag. Dem 'Weg der Stimme' folgt die blau-gepunktete Linie.
3
Als störenden Einfluss zeigen sich Zwischenrufe, laute Kommentare oder flüsternde Absprachen.
* Dargestellt werden diese Nebengeräusche durch weitere Markierungen 'Ring' der Sprecher*innen.
Senatssitzung No. X
Seminarraum, Bibliothek
'Burg Halle'
7. Dezember 23
Tagesordnungspunkt X
Debatte, 16.17 - 16.29 Uhr
Abstimmung, 16.30 Uhr
16.30 Uhr
Fürstimmen
21 von 29
Teilnehmende
am Gespräch
3
16.32 Uhr
Gegenstimmen
1 von 29
Teilnehmende
am Gespräch
1
16.32 Uhr
Enthaltungen
7 von 29
Teilnehmende
am Gespräch
1
Abstraktion
Das in '2' beschriebene, verbindende Mittel als Wegmarken der Wortwechsel wird schichtweise hervorgehoben. Dazu wird zunächst der Grundriss, dann die Sitzgruppen ausgeblendet.
* Bei Nachvollziehung der Sprachanteile entsteht ein sich-selbstzeichnender 'Graph' der Diskussion.
Redeanteil 1
1 x innenliegender Kreis
1 x umliegender Ring
Redeanteil 3
1 x innenliegender Kreis
3 x umliegender Ringe
Redeanteil 6
1 x innenliegender Kreis
6 x umliegender Ring
Die Durchsetzung der Abstraktion und der Übertrag der jeweiligen Redeanteile aller Sprecher*innen und erzeugt einen Graphen. Dieser veranschaulicht die individuell Debatte des Hochschulsenats.
Die visuelle Übersetzung verrät die Zwischenräume und Wege des Gesprächs.
Der nun generierte Graph vermag es Anliegen abzubilden, die besonders im Interesse der Studierenden stehen.
Plakatserien erlauben es Themen, Abstimmungen und Entscheide darzustellen und gleichbedeutend Redeanteile, Zwischenräume, Gesprächswege und besonders -lücken zu verdeutlichen. Weiterhin fragen wir uns, welche Inhalte und Bedenken im Zwischenraum Gefahr laufen sich zu verlieren oder unberücksichtigt bleiben. Die Feldstudie 'mind the gap!' verweist auf diese Lücken.
Die Plakatserie unternimmt den Versuch diese Schwellen zu überwinden und an die Beachtung der Hochschulpolitik zu mahnen.
„Warum wird das Design eigentlich nicht zur Rechenschaft gezogen?” Ausgehend von dieser kontroversen Frage einer Semianrteilnehmerin fanden wir uns in einer Diskussion wider, die sich grob um das Lernen, Studieren und Lehren an der Burg drehte.
Wir einigten uns in der Seminarrunde auf die Frage: „Wie wird X an der Burg gelehrt und gelernt?”Das X konnte für jede*n von uns anders sein, je nach dem an welchem Punkt im Studium wir uns befinden, was wir studieren oder in welcher Studienstruktur wir uns bewegen. Fest steht, dass diese Begriffe pro-emisch waren, also die wir selbst, in unserer Position als Studierenden nutzen. Wir pendelten in einer offenen Diskussion zwischen Haltung und Zukunft des Designs, Kapitalismuskritik, Fachgeschichte/Designgeschichte, Arbeitskultur und kritisches Design hin und her. Wichtig war dabei herauszufinden, welches spezielle Thema in den Fragestellungen steckt? Und vor allem: wie wird das ausgehandelt.
Für die anschließende Feldforschung konnten wir unser X nicht bestimmen. So schlenderten wir über den Campus, atmeten tief durch und folgten gedanklich den Trubel des Innenhofs. Mit losen Strängen waren wir im Feld — aufmerksam für die Regeln des Spiels. Wie ein Spielball erreichte uns die Info darüber, dass heute eine Senatssitzung stattfinden wird. Der Rahmen eines Hochschulgremiums, einer der Senatssitzung führte zu der Fragestellung, wie Hierarchien in einem solchen Setting im Raum lesbar, hörbar oder spürbar werden.
Zusammen haben wir uns in den öffentlichen Teil der Senatssitzung gesetzt und die Situation beobachtet (teilnehmende Beobachtung). Die Senatssitzung fand im Seminarraum der Bibliothek am 7. Dezember 22 um 16 Uhr statt.
Kurzfristig entschieden, die kleine Feldstudie innerhalb der Senatssitzung durchzuführen, ging alles plötzlich sehr schnell. Leider waren wir so zu Beginn nicht besonders gut vorbereitet, hatten keine Informationen über die Tagesordnungspunkte, und kannte nur den Großteil der anwesenden Personen. Zugegeben waren wir zehn Minuten zu spät und bereiteten dann die teilnehmende Beobachtung in den ersten Minuten vor. Rasch haben wir versucht Charaktere zu konstruieren, je nachdem was sie sagen und wie sich äußern und welche Kommunikationskultur sie pflegen. Dies haben wir versucht ganzheitlich, ohne auf einzelne Personen zu fokussiert zu sein, zu notieren, zu dokumentieren und zu skizzieren. Zudem verfolgten wir die Positionen der Sprecher*innen im Raum und zeichneten auf einer Skizze eine Art „Gesprächsweg“. Insgesamt versuchten wir möglichst viele Eindrücke und Geschehnisse zu dokumentieren und zunächst eine große Materialsammlung zu bilden.
In Stichpunkte notierten und skizzierten wir folgende Punkte:
- Haltung: Sitzhaltung, Beinstellung, Armstellung, Interaktion mit dem Tisch/Stuhl, Positionswechsel
- Arbeitsmaterialien: Laptop, Papierausdrucke, handschriftliche Notizen, Smartphone
- Gestik und Mimik bei Passivität oder Aktivität
- Uhrzeit: Abwesenheit einzelner Personen, Zeitfenster und -rahmen der TOPs
- Positionswechsel
- Stimme: Aufgeregt, sicher, empört, schnell sprechend, ruhig
- Persönliche Ablehnung bzw. Zuspruch nach Äußerungen, was nehmen wir war und weshalb
- Gruppen: Formierung über räumliche Distanz/Nähe hinweg, tuscheln, Absprachen
- Moderation: Vergabe von Redeanteilen, Einschränkungen, Unterbrechungen, Wortmeldungen
- Gepäck: Kleidung, Koffer, Utensilien
- Besonderheiten: Bemerkenswerte O-Töne, Wortlaute, Argumente
- Das persönliche Empfinden: Wie fühlen wir uns?
Gemeinsam haben wir aufmerksam zugehört, mitgedacht, beobachtet und vor allem mitgeschrieben und skizziert. Aber wie wir dabei feststellten, war es lediglich der Versuch einer ganzheitlichen Dokumentation, da insbesondere Ereignisse festgehalten wurden, die wir deuten wollten und weitreichend spannend erschienen. So interpretiert sich folgende Interaktion zwischen einer höher gestellten Verwaltungsmitarbeiterin und einem Studierenden.
Der Student formuliert eine lange Frage, indem er versucht zusätzlich den Kontext seines Anliegens für die anwesenden Personen offenzulegen. Er blickt viel in den Raum, sucht nach Blickkontakt und Gehör. Der Student spricht zu Beginn etwas aufgeregt, dann festigt sich seine Stimme, dennoch erröten seine Wangen. Währenddessen stützt die Verwaltungsmitarbeiterin ihren Kopf in die Hände und blickt kaum auf, scheinbar konzentriert sie sich auf den ihr vorliegenden Ausdruck. Ihr Körper fällt immer mehr zusammen und hängt träge über dem Tisch. Der Student beendet seine Frage und blickt erneut, nun etwas nervös, in den stummen Raum. Die Verwaltungsmitarbeiterin antwortet trocken: „Ja natürlich“ und beendet das Anliegen.
Hier waren wir besonders aufmerksam, merklich aufmerksamer als bei anderen Wortwechseln. Wir überlegen noch lange Zeit, warum wir die Situation als so unangemessen interpretieren. Liegt es wahrscheinlich einerseits an ihrer [der Mitarbeiterin] mangelnden Würdigung der Frage eines Studierenden, der in unseren Augen mutig hervortritt und eine Ausnahme inmitten der sprechenden Gruppe der Lehrenden bildet, durch ihre geschlossene, passive, ungerichtete Sitzhaltung? Oder andererseits daran, dass ihre Antwort kein Verb, also einen vollständigen Satz beinhaltete? Für uns äußert dieser Wechsel ein Missverhältnis: lange Frage, kurz angebundene Antwort.
Da hier Wissen bzw. Erkenntnis für eine Person [den Studierenden] ausgehandelt wurde, finden wir es jedoch doch sehr wichtig, diese Situation zu dokumentieren. Uns würde interessieren, wie andere diesen Wechsel und ob sie ihn überhaupt wahrgenommen haben.
Darüber hinaus notierten wir und dachte nach – simultan und anschließend:
- Wen empfinden wir als sympathisch, wen nicht – und wieso?
- Welches Vorwissen über Einzelpersonen beeinflusst uns?
- Anstrengung und Ermüdung, schlechte Luftverhältnissen zerren an unserer Konzentration.
- Welche Schwellen nehmen wir war - und warum?
Die Selbstreflexion ist noch nicht abgeschlossen und oft denken wir daran, warum sich Antipathien und Sympathien in uns aufbauten und ob sie bestehen. Nicht alles schrieben wir mit, einiges nahmen wir nicht wahr. Deutlich später verstanden wir, dass sehr vieles auch mit unserer Position im Raum zu tun hatte und wie wir uns den Zugang zu diesem Raum verschaffen konnten. Die Tür bedeutete für uns eine Schwelle und materialisierte einen Ausschlussmechanismus. Sie prägte irgendwie auch dieses „Vorzeichen“, unser Empfinden über den Raum. Im Gespräch stellten wir zusammen fest, dass der gleiche Raum, in dem wir tagsüber saßen und entspannt diskutieren konnten, ein ganz anderer Raum während der Senatssitzung war. Der Raum war geladen, Material wie die Stühle und Tische wurden auf einmal “institutionalisiert” und kalt.
Das erinnerte auch an die Schulzeit, und an den Klassenraum, der sich je nach Lehrperson entweder angenehm oder absolut stressig anfühlte. Dem entsprach auch die kontroverse, damaligen Haltung zur Schule im Allgemeinen.
Was gut bei der Feldforschung funktionierte, war, „Ethnograph*in zu spielen“. Das bedeutete, im Raum zu sein, sitzen, körperlich dort sein und alles aufzusaugen, sich zurückzunehmen und sehr bewusst als Nicht-Akteur*in aufzutreten. Es fiel uns leicht, alles sehr spannend zu finden, was sicherlich als Akteur*in nicht so passiert wäre. Aber wir bemerkte auch, wie schwer es ist, eine Fremdkonstruktion aufrecht zu erhalten. Es gab zum Beispiel die Situation, in denen Entscheidungen über die Gruppe der Studierenden ohne Beteiligung von Studierenden getroffen wurden und wir dabei Ungerechtigkeit, ja sogar Empörung empfanden – sicherlich deswegen weil wir dabei unbewusst in die Rolle der Betroffenen rutschten, als vielmehr teilnehmende*r Beobachter*in zu bleiben.
Einen tatsächlichen Vergleich haben wir nicht, dennoch war aber diese teilnehmende Beobachtung ein Anhaltspunkt, was es praktisch bedeuten könnte, ethnographisch zu arbeiten. Was sich davor irgendwie einfach und spielerisch anhörte, erfordert eigentlich einen langen Reflexionsprozess und - für uns zumindest - auch den Dialog mit anderen darüber. Dass alles auf einmal eine Gewichtung bekommt, stellt eine Herausforderung dar: Für die Einzelperson, aber auch für die Datenverarbeitung. Die eigene Gefühle aufzuspüren, und wie Beziehungen sich in dem Regelwerk wiederfinden, ist ein schwieriger und besonders langer Prozess. Aus eineinhalb Stunden Senatssitzung resultieren einige Stunden des Nachdenkens und Sprechens.
Die Sammlung unserer Notizen, Skizzen und Diagrammen sind analoges, handgeschriebenes, teilweise geschmierte Mitschriften im Notizheft und auf losen Blättern. O-Töne, kleine Skizzen, quantitatives Material wie Uhrzeit und Anzahl der sprechenden Personen, sowie subjektives Raumempfinden (eine Mentalmap vom Raum). Immateriell, die noch nicht zu Ende reflektierten Gefühle und Stimmungen.
Wir haben das starke Gefühl, dass eine gewissenhafte Reflexion über die Feldforschung sehr viel Nachbearbeitung benötigt. Dies alles zu durchdenken, zu durchdringen und zu reflektieren, scheint uns wirklich sehr schwierig und intellektuell wahnsinnig anspruchsvoll zu sein. Dadurch, dass wir immer mit dem Körper und mit unseren kulturalisierten Sinnen unterwegs sind und teilnehmen, empfinden wir es herausfordernd, die Fremde im Inneren zu konstruieren.
Auch hier denke wir, dass sich diese Beobachtungen mit Theorien verbinden müssten, bevor wir noch einmal an einer ähnlichen Situation teilnehmen.